Verhältnis von Steuerschuld und Haftungsschuld – „Akzessorietät“
Ohne Hauptschuld (i. d. R. eine Steuerschuld) gibt es grundsätzlich auch keine Haftungsschuld. Der Haftungsanspruch ist vom Bestand und der Höhe der Hauptschuld abhängig („Akzessorietät“). Die Haftungsschuld „steht und fällt“ mit der Hauptschuld, für die gehaftet werden soll.
Einwendungen gegen die Hauptschuld „schlagen“ damit auf die Haftungsschuld „durch.“ Der Haftungsschuldner kann also gegen einen Haftungsbescheid vorbringen, bei Erlass des Haftungsbescheides habe die Hauptschuld nicht mehr oder jedenfalls nicht in der vom FA behaupteten Höhe bestanden.
Ausnahmen von der „Akzessorietät“
Von diesem Grundsatz gibt es einige Ausnahmen. Besonders praxisrelevant ist § 166 AO. Dort ist die sog. Drittwirkung oder Bestandskraftwirkung der Steuerfestsetzung geregelt.
AO § 166 Ist die Steuer dem Steuerpflichtigen gegenüber unanfechtbar festgesetzt, so hat dies neben einem Gesamtrechtsnachfolger auch gegen sich gelten zu lassen, wer in der Lage gewesen wäre, den gegen den Steuerpflichtigen erlassenen Bescheid als dessen Vertreter, Bevollmächtigter oder kraft eigenen Rechts anzufechten. |
Beispiel: GmbH in der Krise Sachverhalt: Eine Betriebsprüfung bei einer GmbH führt zu Zuschätzungen, weil die Buchführung mangelhaft ist. Das Finanzamt erlässt ggü. der GmbH Änderungsbescheide (KSt, USt und GewStMB) mit erheblichen Nachforderungen. Der Geschäftsführer der GmbH (GF) hält die Zuschätzungen zwar für rechtswidrig (zu hoch), legt aber aus Kostengründen keinen Einspruch ein, weil die GmbH die Steuern ohnehin nicht bezahlen kann. Ein paar Wochen nach Ablauf der Einspruchsfrist stellt GF Insolvenzantrag für die GmbH. Das Finanzamt erlässt ggü. GF einen Haftungsbescheid (§§ 69, 34 AO) wegen KSt- und USt-Schulden der GmbH. Die zuständige Gemeinde erlässt ggü. GF zusätzlich einen Haftungsbescheid wegen GewSt-Schulden der GmbH. GF verteidigt sich im Rechtsbehelfsverfahren gegen die Haftungsbescheide u. a. damit, dass die Steuerfestsetzungen gegenüber der GmbH falsch (viel zu hoch) seien. Mit Erfolg? Lösung: GF ist im Haftungsverfahren (Einspruchs- und Widerspruchsverfahren) mit Einwendungen gegen den Bestand und die Höhe der Hauptschulden (KSt, USt und GewSt der GmbH) gemäß § 166 AO ausgeschlossen. Er war rechtlich in der Lage, als Vertreter (§§ 35 Abs. 1 S. 1 GmbHG; 34 Abs. 1 AO) Einspruch gegen die Änderungsbescheide einzulegen, was er nicht getan hat. Damit wird die Höhe der Hauptschulden im Verfahren gegen die Haftungsbescheide nicht mehr geprüft, sie steht gemäß § 166 AO unwiderlegbar fest. |
Drittwirkung vs. Wahrung der Verteidigungsrechte
Jedenfalls im Bereich der sog. harmonisierten Steuern (im Beispiel: die USt) ist auch das Unionsrecht und die dazu ergangene EuGH-Rechtsprechung zu berücksichtigen.
Der EuGH (27.02.2025, C-277/24, Rn. 52; 16.10.2019, C-189/18, Rn. 51; s. auch EuGH, 04.06.2020, C-430/19) entschied, dass sich aus dem allgemeinen unionsrechtlichen Grundsatz der Wahrung der Verteidigungsrechte grundsätzlich ein Anspruch auf rechtliches Gehör und ein Recht auf Akteneinsicht beim Finanzamt ergibt.
Speziell in der Entscheidung vom 27.02.2025, C-277/24, Rn. 65, bestätigte der EuGH ein Akteneinsichtsrecht des Haftungsschuldners. Doch diese Entscheidung ist auch mit Blick auf § 166 AO interessant.
Unter Rn. 56 heißt es dort:
„Allerdings kann die Bestandskraft einer Verwaltungsentscheidung keine Beeinträchtigung des Wesensgehalts der Verteidigungsrechte rechtfertigen. So kann nicht zugelassen werden, dass die Steuerverwaltung wegen der Bestandskraft der am Ende konnexer Verwaltungsverfahren getroffenen Entscheidungen davon freigestellt wird, dem Steuerpflichtigen die Beweise einschließlich der aus diesen Verfahren stammenden Beweise zur Kenntnis zu bringen, auf deren Grundlage sie den Erlass einer Entscheidung ihm gegenüber beabsichtigt, und dass dem Steuerpflichtigen somit das Recht genommen wird, die betreffenden Tatsachenfeststellungen und rechtlichen Wertungen in dem ihn betreffenden Verfahren wirksam in Frage zu stellen (vgl. idS EuGH v. 16.10.2019 – C-189/18, … Rn. 47 und 49).“
Anmerkung Die Bestandskraft der Verwaltungsentscheidung (= Steuerfestsetzung) darf nicht dem unionsrechtlichen (Verteidigungs-)Recht entgegenstehen, die Tatsachenfeststellungen und rechtlichen Wertungen aus dem Besteuerungsverfahren, also insb. Bestand und Höhe der Hauptschuld, anzugreifen. M. E. gilt daher § 166 AO im Bereich der harmonisierten Steuern nicht. GF kann im obigen Beispiel zumindest noch Einwendungen gegen die Höhe der USt vorbringen. Anderer Auffassung allerdings (bisher) der BFH in einer Entscheidung vom 26.08.2021, V R 13/20, Rn. 21: „Das Unionsrecht steht der Anwendung von § 166 AO nicht entgegen. Denn aufgrund fehlender unionsrechtlicher Vorschriften ist es nach dem Grundsatz der Verfahrensautonomie Sache der innerstaatlichen Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten, z.B. die Modalitäten der Wirkung der Rechtskraft festzulegen.“ – Der (entgegenstehende) Grundsatz der Wahrung der Verteidigungsrechte wurde vom BFH allerdings nicht erörtert. |
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